In der Regel beginnt ein Text mit einer Einleitung, doch hier gehts um Tiktok – und darum sofort los. Eva Pieth, 68, das Handy in der Hand, sieht auf dem Bildschirm, wie der Influencer und Comedian Eric Lüthi die Jugendslangs verschiedener Jahrgänge imitiert: 

2000: «He Alte, was meinsch, wämer hütt no bitzli uf d Löitsch? Es isch no Chilbi im Dorf.»

2005: Eric hat das Basecap jetzt verkehrt herum auf dem Kopf: «Hei Brudi, gömer hütt no chli a s Turnfäscht? Wär easy nice.» 

2010: «Hei Bro, was lauft, Alte, gömer hütt no bitz go zippe, was meinsch?»

2018: «Sheesh, was lauft, du Pitsch? Gäbemer öis heftig, Alte, wär richtig nice, Bra.»

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So geht es weiter. Im letzten Ausschnitt dieser «Slang-Studie» ist Lüthi im Jahr 2030 angekommen und nuschelt nur noch Kauderwelsch. Das Basecap hat er sich bis über die Nase gezogen, die Bauchtasche bis unters Kinn, man versteht eigentlich gar nichts mehr. Eric Lüthi, Sprachlaborant, löst den Slang der Jugendgenerationen gewissermassen auf wie eine Brausetablette im Reagenzglas.  

Das Publikum liebt das Video. Es hat über 300’000 Views. 

Eva Pieth hat sich das jetzt zweimal angesehen und sagt: Jaja, sie finde das schon noch lustig. Diese Wörter, köstlich. Hat sie alles verstanden? «Das meiste schon, ja, nur dass es eine Zeitreise war, das fiel mir zunächst nicht auf.» Dann legt sie das Handy auf den Stubentisch und schaut zum Macher des Videos, der ihr da gegenübersitzt: Eric Lüthi, bekannt unter dem Spitznamen @ericwdrae, einer der bekanntesten Tiktoker der Schweiz. 

Pieth und Lüthi sehen sich zum ersten Mal. Es ist ein abgekartetes Spiel, herbeigeführt durch den Beobachter. Alt trifft Jung, Bro trifft auf Bildungsbürgerin, das war die Idee. Und das Ziel: über Sprache zu sprechen. Genauer: über den sogenannten Jugendsprech und den aktuellen Stand der angeblichen Sprachverhunzung. Dadaisten gegen Goethe, Punk gegen Klassik, Expressionismus gegen Realismus – alles schon gehabt. Aber eben nicht jetzt, heute, und mit Blick auf die neue Spielwiese namens Tiktok, auf der die buntesten Sprachblüten blühen. 

Die Gärten vor Pieths Haustür im Winterthurer Quartier Veltheim sind hübsch gepflegt. Im Wohnzimmer steht das Kinderspielzeug der Enkelinnen, die CDs im Wandregal sind nach Herkunft der Interpreten sortiert. Europa, Asien, Lateinamerika. Das Piano ist weiss. 

Eric Lüthi hingegen wohnt sozusagen auf Tiktok. Die Videoplattform gehört insbesondere unter jungen Nutzerinnen und Nutzern zu den populärsten Apps. Der Kreativität sind aufgrund der zahlreichen Funktionen fast keine Grenzen gesetzt, es wird viel gesungen und getanzt. 

Die App ist aber auch umstritten. Kritisiert wird neben dem unzureichenden Datenschutz auch mangelnde Kontrolle über Gefahren wie Cybermobbing und Schleichwerbung. In den USA ist die App darum teilweise verboten. 

Bitte nicht spontan

Sind Sie oft auf Tiktok, Frau Pieth?

Pieth: «Nein, ich habe mir dort in Vorbereitung auf heute lediglich ein paar Videos von Eric angeschaut. Aber ich bin ab und zu auf Youtube. Dort gab es zeitweise einen Comedian, Bendrit Bajra, der Strassenumfragen machte. Kennst du den, Eric?»

Eric: «Ja, aber das wäre nichts für mich. Ich hasse es, mit Leuten spontan vor der Kamera zu interagieren.»

Pieth: «Du begegnest in deinen Videos auch anderen Menschen. Ist das alles vorbereitet?»

Eric: «Das ist alles gescriptet. Zeile für Zeile.»

Lehre im Detailhandel, Karriere im Internet

Eric Lüthi machte eine Lehre im Detailhandel und arbeitete dann eine Weile im Verkauf. Er sei ein witziger Typ, sagen seine Kollegen, ein Klassenclown. Als er wegen interner Umstrukturierungen den Job verliert, erzählt ihm ein Kumpel von dieser neuen App, Tiktok. Die sei wie gemacht für ihn und sein Talent. 

Lüthi fängt an, kleine Szenen zu filmen. Interaktionen aus dem Alltag, lebensnah, Identifikationspotenzial: hoch. Er mimt verschiedene Stereotype. Bünzli, Alte, Streber, kumpelige Sozialarbeiter im Park. Mit besonderer Virtuosität spielt er den «HB-Hänger» und Bresha, eine junge, vorlaute Frau. Das kommt an. «Wenn ich eine Weile kein Video mit Bresha hochlade, werde ich mit Nachrichten geflutet: ‹Wo ist sie?!›»

Bresha hat, wie viele Figuren von Eric, einen albanisch gefärbten Slang. Das ist interessant, denn Jugendsprache hiess lange, den eigenen Wortschatz mit etwas englischem Swag aufzupolieren. Fly, legit, cringe – und fertig war der Szenetalk. Heute drängen andere Einflüsse auf dieses sprachlich höchst flexible Spielfeld und setzen sich im Wortschatz fest. Es sind arabische Floskeln, Habibi (Schatz), Maschallah (ein Ausdruck der Bewunderung), Yallah (auf, los!), türkische Schimpfwörter wie Çoban (Hirte) oder eben albanische Wörter wie Njeri (Typ, Mann). Ein polyglotter Turbosound. Zukunftsmusik. 

Zum Glück tauchen immer neue Wortschöpfungen auf, sagt Lüthi. «Ich habe ADHS und nehme alles gleichzeitig auf, wenn jemand hier, jemand anders dort etwas sagt.» Am Bahnhof, im Zug, auf Tiktok. Als Verkäufer hat er an der Kasse viele Gespräche gehört. Tiktok-Creator ist ein Antennenjob. Es braucht Geduld, Inspiration, Kreativität. 

Und, schon mal gecancelt worden?

Lüthi: «Nein. Einmal habe ich in einem Video das Wort Maschallah benutzt und im selben Atemzug über Alkohol geredet. Da hat mir jemand höflich geschrieben, er finde das aus religiösen Gründen nicht so gut. So was nehme ich schon ernst. Ich würde das heute nicht mehr machen.»

Die Sache mit der Aneignung

Wenn Eric Lüthi albanische Kids mimt, tut er das meistens im Modus eines rauen Burschen. Der «HB-Hänger» zum Beispiel ist einer, der breitschultrig Probleme sucht und den zerhackten Slang zwischen Njeri und Hajde (los gehts!) mit der Hand im Schritt zur Aufführung bringt. Darf der das? 

Denn Eric Lüthi ist kein Albaner und weder in Tirana noch Pristina, sondern in Winterthur aufgewachsen. Da stellt sich angesichts der aktuellen Debatten über kulturelle Aneignung die Frage, ob das so in Ordnung ist – oder ob da jemand auf Kosten migrantischer Minderheiten Karriere macht. Lüthi kann dank Sponsoringverträgen seit etwas mehr als einem Jahr von Tiktok leben.

Lüthi, vom Feuilletonthema Cancel-Culture wenig beeindruckt, sagt, er mache sich über diese Figuren nicht lustig. Er stelle alle Stereotype überspitzt dar und lache in erster Linie über sich selbst. «Ich bin einfach mit sehr vielen albanischen Freunden aufgewachsen.» Er höre, wie sie reden, also spiegle er das. In manchen Schulen haben sich der Slang und die Sprechweise, ein albano-helvetischer Gangsterverschnitt, zur Standardsprache entwickelt. Das kann man doof finden. Oder man hört hin. «Kürzlich kamen am Bahnhof Winterthur vier Jungs auf mich zu», erzählt Lüthi. «Sie hatten genau diese Attitüde. Genau diesen Gang, genau diesen Slang. Sie haben mir zu den Videos gratuliert!»

«Ich verstehe nicht alles»

Zurück im Winterthurer Quartier Veltheim, wo eher keine HB-Hänger anzutreffen sind. Lüthi schaut kurz aus dem Fenster und stützt die Ellbogen auf den Tisch. Jetzt aber, Sprachkritik: Wie kommt Ihnen das «rein», was der Lüthi da macht, Frau Pieth?

Pieth: «Ich verstehe nicht alles, und ich habe den Eindruck, ich soll auch nicht alles verstehen.» Empfindet sie das als Ausschluss? «Nein, ich muss nicht überall mit gemeint sein», sagt Pieth. Lüthi: «Das ist ja zum Teil auch sehr bewusst übertrieben. Ich würde so nie mit meiner Mutter reden, zum Beispiel.» Pieth: «Nein?» Lüthi: «Ich kanns mal probieren, aber ich glaube, dann hätte ich ein Problem.» 

Gibt es also keine Kluft mehr zwischen Alt und Jung, sprechen wir alle in einhelliger Vertrautheit dieselbe Sprache? Spielen wir wirklich alle im selben Team? Zumindest diese Versuchsanordnung – Tiktoker trifft pensionierte Physiotherapeutin – ging ohne gröbere Missverständnisse über die Bühne. Man kann das positiv deuten: Offenbar gibt es auch in den Veltheim-Quartieren dieses Landes aufgeschlossene Ohren, für die die Weltordnung nicht auf der unverrückbaren Sprachformel «Subjekt, Prädikat, Objekt» aufbaut. 

Sondern die Spielformen zulassen und sie, ja, als Kunstform schätzen. Abschlussfrage: Wo hat man eigentlich früher mit Jugendsprache experimentiert, Frau Pieth? 

«Tiktok gab es damals nicht. Wir haben einfach zusammen geredet.» 

Der krasseste Spruch damals? 

«Ich kann mich nur erinnern, dass wir absichtlich wüst redeten, um die Erwachsenen zu schocken. Wenn ich ein Wort herauspicken müsste: geil.»
 

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Der deutsche Langenscheidt-Verlag kürt jedes Jahr das «Jugendwort des Jahres». Die Gewinner:  

  • 2022: Smash – mit jemandem etwas anfangen
  • 2021: Cringe – peinlich, zum Fremdschämen
  • 2020: Lost – ahnungslos, verwirrt
  • 2019: kein Jugendwort
  • 2018: Ehrenmann/Ehrenfrau – guter Mensch
  • 2017: I bims – Ich bins
  • 2016: Fly sein – besonders abgehen
  • 2015: Smombie – Zusammensetzung aus «Smartphone» und «Zombie»: Personen, die beim Gehen immer aufs Handy schauen und dadurch nichts mehr mitbekommen
  • 2014: Läuft bei dir – Gut gemacht! Du hast es drauf! Cool!
  • 2013: Babo – Boss, Chef
  • 2012: Yolo – You only live once
  • 2011: Swag – Coolheit, Lässigkeit
  • 2010: Niveaulimbo – sinnlose Gespräche, bei denen das Niveau stetig sinkt